Institut für Rechtsmedizin (Lokstedt)

Dead by Law

Brechmittel im Universitätskrankenhaus Eppendorf

Erstellt am 09.12.2011, zuletzt geändert am 12.12.2013 | hamburg multidimensional

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University Medical Clinic Hamburg Eppendorf

Vor über zehn Jahren starb Michael Uzodinma Nwabuisi in Hamburg an den Folgen der Brechmittelfolter. Diese wurde fast ausschließlich bei jungen Männern mit schwarzer Hautfarbe angeordnet und stets im Institut für Rechtsmedizin am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE). Die Verantwortlichen mussten sich nie einem Verfahren stellen. Viele Jahre protestierten die Ärztekammer Hamburg, Wissenschaftler_innen, Anwält_innen und antirassistische Initiativen gegen diese lebensbedrohende “Beweissicherung” bei mutmaßlichen Drogendelikten. Mittlerweile wird auf den zwangsweisen Einsatz von Brechmitteln in Hamburg verzichtet. Eine kritische Aufarbeitung hat staatlicherseits jedoch nie stattgefunden.

Es dauerte lange, bis der Leichnam bestattet wurde. Der Tote mit dem Namen Achidi John lag viele Monate in der Kühlhalle des Friedhofs Hamburg-Öjendorf. Der junge Mann starb am 12. Dezember 2001, nachdem ihm drei Tage zuvor Ipecacuanha-Sirup und fast ein Liter Wasser in den Magen gepumpt worden waren. Die Hamburger Polizei hatte ihn am Hauptbahnhof festgenommen, weil sie gesehen habe, wie er weiße Kügelchen geschluckt haben soll. Telefonisch genehmigte ein Staatsanwalt im Eilverfahren den Brechmitteleinsatz, an dessen Folgen John letztlich verstarb.

Erst die Künstler rund um den Verein „Brothers Keepers“ ermittelten, wo genau der Tote aufgewachsen war. Sie fanden heraus, dass der Tote nicht aus Kamerun, sondern aus Nigeria stammte, dass er nicht Achidi John, sondern Michael Uzodinma Nwabuisi hieß: Im Sommer 2000, kurz bevor sein Visum auslief, hatte er seinen Pass entsorgt und in Hamburg Asyl beantragt – als 19jähriger John aus Kamerun. Die „Brothers Keepers“ sammelten Geld, überführten den toten Körper, beerdigten ihn gemeinsam mit der Familie und traten als Nebenkläger in einem Verfahren auf, das nie vor Gericht kam. Trotz zahlreicher Strafanzeigen hatte die Staatsanwaltschaft Hamburg im Jahr 2002 ein Ermittlungsverfahren abgelehnt, weil „kein Anfangsverdacht strafbaren Handelns“ bestanden habe.

„Tatsache ist, dass Paul Nwabuisi unmittelbar durch die Maßnahme der Prof. Lockemann und ihrer polizeilichen Helfer – eindeutig ein Verstoß gegen die Antifolterkonvention – zu Tode gekommen ist. Deutlicher kann der Anfangsverdacht für eine strafbare Handlung nicht sein. Wenn die Staatsanwaltschaft sich seit Dezember 2001 weigert, ihren gesetzlichen Aufgaben nachzukommen, muss nach dem Grund gefragt werden. Naheliegend ist, dass sich die Hamburger Staatsanwaltschaft mit der Entscheidung im Zustand der Selbstverteidigung befindet. Denn die Anordnung zum – auch gewaltsamen – Brechmitteleinsatz kam von ihr, obwohl die Hamburger Ärztekammer diese Einsätze längst aus medizinischen und ethischen Gründen abgelehnt hatte“,

so die Anwält_innen der Familie Nwabuisi, Gabriele Heinecke und Martin Klingner, in einer Pressemitteilung vom Oktober 2002. 1

Schlauch durch die Nase, gefesselt an Händen und Füßen

An jenem Dezembertag 2001, als Polizeibeamte Nwabuisi ins Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf brachten, hatte die junge Professorin Ute Lockemann am Institut für Rechtsmedizin Dienst. Obwohl Nwabuisi zuvor zusammengesackt war, wollte sie ihm einen langen Plastikschlauch durch die Nase schieben, geht aus den Unterlagen zur Klageerzwingung von 2002 hervor.2 Weil er Angst hatte und sich wehrte, drückten ihn Polizeibeamte auf den Boden, fesselten ihn an Füßen und Händen, versuchten, sein Gesicht zu fixieren – eingequetscht zwischen den Oberschenkeln eines Polizisten. Die drei Beamten forderten Verstärkung an. Offenbar unbeirrt von dieser Situation, presste die Rechtsmedizinerin dann ein drittes Mal den Schlauch durch das Nasenloch. Nwabuisi röchelte, aber erbrach sich nicht. Dann bewegte er sich nicht mehr und verlor die Kontrolle über seine Blase.

Minutenlang lag Nwabuisi da, gefesselt, regungslos, fast ohne Puls. Eine Medizinstudentin soll dann nach dem Puls gefühlt haben. Schließlich wurde der Notarzt gerufen. Später wird es in einem Gutachten heißen, eine Herzkrankheit habe zu Nwabuisis Tod geführt. Dieses stammte von Volkmar Schneider, dem damaligen Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Berliner Charité. Zu einem ähnlichen Urteil sollte er auch 2005 im Falle eines weiteren Opfers der Brechmittelfolter in Bremen gelangen.

Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Über 40 Kügelchen holte man Nwabuisi aus dem Magen – insgesamt etwa fünf Gramm Crack. Dafür wäre er zu Arbeitsauflagen oder zu einer Jugendstrafe von etwa zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Dies hatte damals eine Anfrage der Ärztekammer Hamburg beim Straf- und Jugendgericht ergeben. Sie wollte damit die Unverhältnismäßigkeit der Mittel aufzeigen. Noch im Oktober, wenige Monate vor dem Tod durch staatliche und ärztliche Gewalt, hatte das Ärztegremium einstimmig festgestellt, dass die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des Betroffenen nicht zu vertreten sei und dass kein Arzt und keine Ärztin – von welcher Seite auch immer – dazu gezwungen werden dürfe, sich an solchen polizeilichen Maßnahmen zu beteiligen.
Noch deutlicher äußerte sich einige Jahre später der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg: Die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln sei „unmenschlich“, „erniedrigend“ und verstoße gegen das Folterverbot, entschied es 2006. Deutschland musste damals einem Kokain-Dealer aus Köln ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro zahlen.

Brechmittel zum Zwecke der Beweissicherung hatte die rot-grüne Koalition im Sommer 2001 eingeführt – auf Drängen des damaligen Innensenators und heutigen Ersten Bürgermeisters, Olaf Scholz (SPD). Auch die Grünen waren daran beteiligt. Krista Sager (GAL) war damals Zweite Bürgermeisterin und sagte am 6. Juli 2001 in der Hamburger Morgenpost:

„Es handelt sich um einen intelligenten Mix aus Hilfsangeboten und repressiven Maßnahmen, an dem wir konstruktiv beteiligt waren.“

Zudem handele es sich um einen mexikanischen Brechsirup, der keine gesundheitlichen Schäden hervorrufe.3

Scholz, Sager, von Beust und der mutmaßliche Kokainkonsument Schill

Damals standen Bürgerschaftswahlen an. Innere Sicherheit, Drogenkriminalität, Recht und Ordnung waren viel diskutierte Themen. Noch dazu schickte sich die neu gegründete Schill-Partei an, viele Wählerstimmen zu gewinnen. Der gern als besonnener Hanseat porträtierte Ole von Beust zeigte keinen Skrupel, mit seiner CDU eine Koalition mit der rechten Partei einzugehen, die von dem als „Richter Gnadenlos“ bekannten Ronald Schill angeführt wurde. Schill selbst sollte später als mutmaßlicher Kokainkonsument in die Schlagzeilen geraten.

Bis Sommer 2003 genehmigte die Staatsanwaltschaft Hamburg fast 300 Brechmitteleinsätze im Eilverfahren, also ohne dass ein Richter darüber befand. In über 80 Prozent der Falle waren junge Männer mit schwarzer Hautfarbe betroffen.4

Auch der zweite Versuch, Nwabuisis Tod vor Gericht zu bringen, scheiterte. Nach dem Straßburger Urteil von 2006 hatte die Hamburger „Kampagne gegen Brechmitteleinsätze“ bei der damaligen Generalbundesanwältin Monika Harms eine Strafanzeige gestellt.5
Es ging um Anstiftung zur Nötigung, zur gefährlichen Körperverletzung und zur Körperverletzung im Amt. Dessen bezichtigt wurden eine Reihe ranghoher Politiker_innen: Scholz als ehemaliger Innensenator, seine Nachfolger Schill und Udo Nagel, die ehemalige Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD) und deren Nachfolger Roger Kusch und Carsten-Ludwig Lüdemann (beide CDU). Außerdem angezeigt wurden unbekannte Hamburger Polizeibeamte und Staatsanwälte beim Landgericht Hamburg sowie der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätsklinik Eppendorf, eine Mitarbeiterin des Instituts und unbekannte Ärzt_innen.

„Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“

Aus der Vielzahl der Brechmitteleinsätze – seit dem Todesfall im Dezember 2001 gab es weitere 400 registrierte Fälle – ergebe sich eine „Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“, heißt es in der Strafanzeige von 2006. In der Begründung, die von zahlreiche Rechtsanwält_innen unterzeichnet wurde, ist zudem zu lesen:

„Es handelt sich hier um eine Form organisierter Regierungskriminalität, der mit der Befassung strafbaren Verhaltens im üblichen Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Zuständigkeiten nicht beizukommen ist“.

Und weiter:

„Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat bei allen Brechmitteleinsätzen mitgewirkt. Sie ist daher nicht das geeignete Strafverfolgungsorgan für Ermittlungen in dieser Angelegenheit.“

Trotz des Urteils des EGMR sah sich die Generalbundesanwältin nicht für den Fall zuständig. Die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg schließlich nahm die Strafanzeige nicht an. Kein Wunder – sie hätte dann gegen sich selbst ermitteln müssen.

Von einer juristischen Aufarbeitung des Falles Nwabuisi ist man weit entfernt. Auch eine kritische Auseinandersetzung in der Politik und in Polizeikreisen mit der menschenrechtswidrigen Praxis des Brechmitteleinsatzes lässt auf sich warten. Immerhin verzichten seit dem Straßburger Urteil die Bundesländer, die Brechmittel eingesetzt haben, auf die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln, darunter Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Hamburg wiederum zögerte nach dem Urteil noch einige Wochen, bis es schließlich auch aufhörte, mutmaßlichen Drogenhändler_innen Brechmittel gewaltsam einzuflößen. Und heute?

„In den letzten Jahren wurde nach unserer Kenntnis auch kein Brechmittel mehr auf freiwilliger Basis verabreicht“,

sagte dazu ein Sprecher der Justizbehörde Hamburg im November 2011 auf Anfrage. Zu den Gründen dafür befragt, heißt es aus der Innenbehörde:

„Die ‚offene Drogenszene’, die es in Hamburg als einziger deutscher Großstadt in dieser Art und Weise und in diesem Umfang gab, ist zerschlagen.“

Dies sei unter anderem der intensiven Polizeiarbeit zu verdanken, die hier einen Schwerpunkt gesetzt habe, so die Behörde.

Die Formen des Drogenhandels hätten sich verändert, die Zahl der Süchtigen sei aber unverändert, so Expert_innen.

„Heute können wir kaum noch eine Szeneballung erkennen, junge Menschen sind mobiler in vielerlei Hinsicht, etwa was die Kommunikation betrifft oder die Orte, an denen sie sich aufhalten“,

sagt Burkhard Czarnitzki, der Leiter von Kids, einer Anlaufstelle für Straßenkinder, zur Entwicklung der Drogenszene in Hamburg. Peter Möller, Leiter der Drogenberatungsstelle „Drob Inn“ weist allerdings darauf hin, dass die Zahl der Suchtkranken in den vergangenen zehn Jahren in etwa konstant geblieben sei. Insofern gehe er davon aus, dass auch eine ähnliche Stoffmenge wie früher gehandelt werden müsse. Heute werde jedoch weniger in der S-Bahn und an einschlägigen Plätzen gedealt, sondern eher im Verborgenen.

„Wir sehen keinen Anhaltspunkt, dass die Zahlen zurückgehen“,

betont auch der Psychologe Marcus-Sebastian Martens, Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg. Das dürfte auch dem Direktor der Rechtsmedizin an der Klinik Eppendorf, Klaus Püschel, ein großer Verfechter der Brechmitteleinsätze, nicht entgangen sein. Schließlich bekommt er die Hamburger Drogentoten auf den Seziertisch gelegt.

1 http://www.brechmitteleinsatz.de/presse/PK%20231002.pdf
abgerufen 8.3.2012

2 http://www.brechmitteleinsatz.de/presse/klageerzwingung.pdf
abgerufen 10.2.2012

3 http://www.mopo.de/news/konzept-gegen-die-drogenszene-in-st—georg-vorgestellt—neue-hauptbahnhofwache—mehr-polizei—neuer-fixerraum—scholz-ueberholt-schill—brechmittel-gegen-dealer,5066732,6069678.html
abgerufen 9.12.2011

4 S. 7 in Hendrik Theismann: Die rechtliche Zulässigkeit einer zwangsweisen Verabreichung von Emetika. Logos Verlag Berlin, 2008.

5 http://www.fluechtlingsrat-hamburg.de/content/Strafanzeige_aktuell_Brechmittel_191006.pdf
abgerufen 10.2.2012

hamburg multidimensional > Institut für Rechtsmedizin (Lokstedt)

Dead by Law

Brechmittel im Universitätskrankenhaus Eppendorf
Karte: hamburg multidimensional
Autor_in Anke Schwarzer
Veröffentlicht 20.12.2011
Zuletzt bearbeitet: 12.12.2013
Weitere Informationen http://www.brechmitteleinsatz.de/
Global Link (Geografischer Bezug): Nigeria (Global Links Karte zeigen)
Adresse: Institut für Rechtsmedizin, Butenfeld 34 Hamburg, Lokstedt, 22529 Eimsbüttel, Hamburg
Koordinaten (Lat/Lon) 53.59219/9.971200

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