Hauptkirche St. Michaelis (Neustadt)

Eine Gedenktafel für Kolonialsoldaten

Wie der Hamburger Michel zum kolonialen Erinnerungsort wurde

Erstellt am 30.12.2020, zuletzt geändert am 17.01.2021 | hamburg postkolonial

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Karen Stubbemann 2017

In der Hauptkirche St. Michaelis, der bekanntesten Hamburger Kirche, auch Michel genannt, hängt seit 1913 eine koloniale Gefallenengedenktafel, die seitdem 15 Hamburger Kolonialsoldaten ehrt – bis dato unkommentiert. Was steht auf der Tafel? Und in welchen Kriegen kämpften die geehrten Soldaten? Wer hat sie aufgehängt und warum? Dieser Text widmet sich der Entstehungsgeschichte der Tafel in Hamburgs Wahrzeichen und versucht sie in einen gesellschaftlichen Kontext einzubetten. Seit vielen Jahren fordern Aktivist:inen, Wissenschaftler:innen und Nachfahren der Opfer dieser Kriege die Tafel nicht unkommentiert hängen zu lassen.0

Im Deutschen Kaiserreich war die Errichtung von Denkmälern gängige Praxis. Koloniale Gefallenendenkmäler vereinen gleich zwei typische Funktionen von Denkmälern: zum einen wird damit den siegreichen Kriegen und seinen Gefallenen gedacht. Zum anderen dienten sie der Vermittlung des kolonialen Gedankens. So erinnern koloniale Gefallenendenkmäler an die militärische Verteidigung der Kolonien und der dabei gefallenen oder verschollenen deutschen Soldaten.

Die Entstehungszeit der Gedenktafel für die gefallenen und verschollenen Hamburger Kolonialsoldaten in der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis erstreckte sich über die Jahre 1909 bis 1913. An ihrer Errichtung waren mehrere Akteure beteiligt. Im Wesentlichen sind hier Kaiser Wilhelm II., der Kriegsminister, der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, das Kommando der Schutztruppen, zwei Kommandos der Kaiserlichen Marine, zwei Hamburger Kolonialveteranenvereine sowie die Hauptkirche St. Michaelis zu nennen. Alle diese Akteure verfolgten mit der Errichtung der kolonialen Gefallenengedenktafel spezifische Interessen:

Die Intentionen Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, des Kriegsministers sowie des Kommandos der Schutztruppen und Kommandos der Kaiserlichen Marine

Im Fall der kolonialen Gedenktafel im Michel ist Wilhelm II., Deutscher Kaiser und zugleich König von Preußen, als Stifter zu benennen, Er ordnete am 11. September 1909 an, im gesamten Königreich Preußen den deutschen gefallenen und verschollenen Soldaten zu gedenken – in den Kirchen, deren Gemeinden die Gefallenen angehörten.1 Dieser Erlass galt nicht für die Freie und Hansestadt Hamburg, da sie nicht zu Preußen gehörte. Einige Monate später wandte sich jedoch der Kriegsminister, Josias von Heeringen, an den Hamburger Senat und forderte diesen auf, ebenfalls einen Erlass zur Errichtung von Denkmälern für die in den Kolonialkriegen gefallenen und verschollenen Hamburger Soldaten herauszugeben.2
Als Kolonialmacht bestand ein großes Interesse des Kaiserreichs darin, dass sich die Bevölkerung mit dem kolonialen Projekt und den in der Ferne liegenden Kolonien identifizierte. So sollte die Bevölkerung die deutsche Kolonialpolitik, deren militärische Verteidigung inbegriffen, gutheißen und unterstützen. Dies wurde nicht zuletzt vor dem Hintergrund zunehmender Krisen – wie der Kolonialkriege – und der verbreiteten ‚Kolonialverdrossenheit‘ und ‚Kolonialmüdigkeit‘ in der reichsdeutschen Bevölkerung für notwendig erachtet.3 Daneben war die Gedenktafel als Gefallenendenkmal auch dazu bestimmt, der reichsnationalen Identifikationsstiftung zu nützen. So sollte sie der deutschen Bevölkerung Heldenmut und Opferbereitschaft vermitteln sowie nationale Identität und militärische Verteidigungsbereitschaft fördern.

Die Intentionen des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg

Die Hansestadt und seine Wirtschaft profitierten enorm vom Deutschen Kaiserreich, vor allem von seinen Kolonien und den Kolonialkriegen, dabei insbesondere vom Ovaherero- und Nama-Krieg. 4 Die Hansestadt war daher am Fortbestehen des deutschen Kolonialreichs interessiert, damit die Kaufleute weiterhin leicht an Ressourcen zu gelangen und unter Geleitschutz des Staates Handel zu betreiben. Die Gedenktafel könnte sich zur Würdigung der gefallenen Kolonialsoldaten angeboten haben, um ihre Bejahung des kolonialen Projekts zu erkennen zu geben. Überdies wird die Hansestadt – wie die das Kaiserreich – daran interessiert gewesen sein, eine prokoloniale Haltung der Bevölkerung zu fördern.

Die Intentionen der Hamburger Kolonialveteranenvereine

Neben dem Reich und der Stadt traten die Kolonialveteranenvereine als Akteure im Entstehungsprozess der kolonialen Gefallenengedenktafel im Michel auf. Veteranenvereine spielten im Kaiserreich eine wichtige Rolle. Diese sich als konservativ-monarchisch verstehende Vereinigungen bildeten die wesentlichen Grundpfeiler des monarchischen Herrschaftssystems in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen5 und fungierten als signifikantes Bindeglied zwischen Militär und Zivilgesellschaft.6 Ideologisch standen sie dem wilhelminischen Militärstaat nahe. Insofern ist die Wirkung, die sie auf Politik und Gesellschaft hatten, als nicht zu gering einzuschätzen.7
Da die Veteranenvereine die Erinnerungen an die Kriege, an denen ihre Mitglieder beteiligt waren, unter anderem mit Denkmälern wachhielten, hatten die Hamburger Kolonialveteranenvereine ein gesteigertes Interesse an der beabsichtigten Anbringung einer Gedenktafel für die gefallenen und verschollenen Hamburger Kolonialsoldaten.
Dass die Gedenktafel im Michel angebracht wurde, geht auf eine Bitte des Veteranenvereins ‚Militärische Kameradschaft ehemaliger Ostasiaten – Hamburg‛ zurück.

Die Intentionen der Hauptkirche St. Michaelis

Die evangelisch-lutherische Hauptkirche St. Michaelis hat unter den Hamburger Kirchen eine herausragende Stellung. So nimmt sie in der Stadt eine repräsentative Funktion ein: sie ist eines der Wahrzeichen Hamburgs. Auch innerhalb des Senats und der Bürgerschaft genoss die Kirche ein hohes Ansehen. Das lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass die Kirche über Sitzplätze verfügte – das sogenannte Senatsgestühl – die ausschließlich für Senatoren bestimmt waren. Hierin spiegelt sich die große Nähe, die zur Entstehungszeit der Gedenktafel zwischen dem Staat beziehungsweise dem Senat und der Hauptkirche St. Michaelis bestand, wider. Durch diesen repräsentativen Standort konnte die Bedeutung der Gedenktafel noch einmal unterstrichen werden.
Eingeweiht wurde die koloniale Gefallenengedenktafel am 19. Oktober 1913 im Rahmen eines gut besuchten Festgottesdienstes anlässlich des 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813), bei dem der Hamburger Senat durch eine Delegation vertreten war.8

Mit der kolonialen Gefallenengedenktafel im Michel wollten die beteiligten Akteure ihre politische und ökonomische Macht sichern und ausbauen. Sie sollte die Zustimmung in der Bevölkerung zur kolonialen Expansion festigen und befördern. Und heute?

Literaturverzeichnis

Manfred Hettling: Einleitung. Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung. Politischer Totenkult im Vergleich, in: Hettling, Manfred / Echternkamp, Jörg (Hg.): Gefallenengedenken im Globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung. Oldenbourg Verlag, München 2013, S. 11- 42.

Meinhold Lurz: Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. 2 Einigungskriege. Esprint-Verlag, Heidelberg 1985.

Heiko Möhle: „Pardon wird nicht gegeben“. Aufständische Afrikaner und hanseatische Kriegsgewinnler, in: ders. (Hrsg.), Branntwein, Bibeln und Bananen. Der deutsche Kolonialismus in Afrika. Eine Spurensuche. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2011, S. 63–68.

Karen Stubbemann: Die Hamburger Große St. Michaeliskirche als postkolonialer Erinnerungsort. Die Gedenktafel für die in den deutschen Kolonialkriegen gestorbenen Hamburger Soldaten. Masterarbeit, Universität Hamburg 2017.

Wette, Wolfram: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg), Darmstadt 2008.

Joachim Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur. IKO Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 2000.

0 vgl. auf Webmap Hamburg Global: Kupfer ist treu – Über den sorglosen Umgang der Kirche St. Michaelis mit der Kolonialvergangenheit.

1 Stubbemann 2017, S. 39.

2 Stubbemann 2017, S. 43.

3 Zeller, S. 73–78, 84.

4 Möhle 2011, S. 63–68.

5 Lurz, Bd. 2 1985, S. 363.

6 Hettling 2013, S. 32.

7 Wette 2008, S. 72.

8 Stubbemann 2017, S. 54-55.

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Eine Gedenktafel für Kolonialsoldaten

Wie der Hamburger Michel zum kolonialen Erinnerungsort wurde
Karte: hamburg postkolonial
Autor_in Karen Stubbemann
Zuletzt bearbeitet: 17.01.2021
Global Link (Geografischer Bezug): China; Namibia, Tanzania (Global Links Karte zeigen)
Adresse: Hauptkirche St. Michaelis , Englische Planke 1, Neustadt, 20459 
Koordinaten (Lat/Lon) 53.54800985426506/9.97857380539115

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