Schule Seilerstraße (St. Pauli)

Marie Nejar auf St. Pauli

Eine afro-deutsche Kindheit im Nationalsozialismus - Marie Nejar im Interview

Erstellt am 04.12.2015, zuletzt geändert am 07.12.2015 | hamburg multidimensional

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© Anke Schwarzer

In den fünfziger Jahren war Marie Nejar ein Kinderstar. Obgleich bereits über zwanzig, sang sie mit Teddybär im Arm Schlager über süße Früchte, große Tiere und Mütterlein. Unter dem Künstlernamen Leila Negra tourte sie mit Sängern wie Peter Alexander durch Nachkriegsdeutschland. Marie Nejar wurde 1930 als Tochter einer Deutschen und eines Ghanaers geboren. Kurz vor Hitlers Machtergreifung. Mit der früheren Schule in der Seilerstraße (heute Hamburger Schulmuseum) verbindet sie ein sehr schmerzhaftes Erlebnis, aber auch die Erfahrung von Trost und Unterstützung.

Marie Nejar wuchs bei ihrer Großmutter auf St. Pauli auf. Ihren Vater, einen Schiffssteward, sah sie nur, wenn er im Hafen festmachte.Als Marie Nejar zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Sie verblutete, weil ihr nach einer verunglückten Abtreibung kein Krankenhaus helfen wollte.

Nach ihrer Schlagerkarriere, mit 27 Jahren, machte Marie Nejar in Rissen eine Ausbildung zur Krankenschwester. Bis zur Rente arbeitete sie in verschiedenen Häusern, zuletzt im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Sie lebt heute in Eimsbüttel, unweit entfernt von jenem Stadtteil, in dem sie als dunkelhäutiges Kind den Rassenwahn der Nazis überlebte. An diesem Freitag, den 20. März, wird sie 85 Jahre alt.

Frau Nejar, haben sich Menschen auf dem Kiez weniger vom Nationalsozialismus beeinflussen lassen als anderswo?

MARIE NEJAR: Ich glaube schon. Die Leute auf St. Pauli waren höchstwahrscheinlich etwas toleranter. Ausländer waren durch den Hafen bekannt. Man sah schwarze Matrosen, man sah Japaner, Chinesen. Und ich war ein kleines Kind. Das macht auch etwas aus. Ich habe überleben können, weil mich die Leute geschützt haben, besonders in meiner Schule.

Wie hat sich das gezeigt?

NEJAR: Als die Kinder der Seilerstraße wegen den Bombenschäden zu uns in die Schule Taubenstraße evakuiert wurden, sollte ich einer Dame Unterlagen meiner Lehrerin bringen. Als diese mich sah, schrie sie sofort auf: “Was willst du hier? Hat deine Lehrerin keine andere Schülerin? Muss sie dich schicken?” Meine Lehrerin ist dann selber zu ihr gegangen und kehrte – knallrot im Gesicht – zurück.

Was hat sie gesagt?

NEJAR: Sie hat mich getröstet: Ich gehöre hierher, ich sei kein Mädchen, das Schande mache. Ich hatte Angst um die Lehrerin und natürlich auch um mich. Die Frau aus der Seilerstraße, die mich so hasste, hatte zu der Zeit ja Recht: In den Augen der Nazis gehörte ich einer “minderwertigen Rasse” an. Was, wenn die zum Direktor geht? Er hätte mich der Schule verweisen können. Das ist aber nicht passiert – und daran sehe ich, was für eine tolle Schule ich hatte.

Wurde Ihnen im Alltag bewusst, welche Folgen die Rassengesetze der Nazis für sie haben könnten?

NEJAR: Lange Zeit waren sie für mich abstrakt. Aber als ich an Scharlach erkrankt war, verstand ich, was sie bedeuteten. Eigentlich hätte ich ins Krankenhaus gemusst. Aber unser jüdischer Hausarzt Doktor Blumenthal warnte uns vor den Zwangssterilisationen, die mir dort hätten widerfahren können. Er kam stattdessen jeden Morgen und jeden Abend in unsere Wohnung, um nach mir zu sehen und mir Medikamente zu verabreichen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Monate später war das Schild an seiner Haustüre abmontiert.

Gab es weitere solche Situationen?

NEJAR: Eine andere Sache war, dass mein Lehrer mir keinen Geigenunterricht mehr geben durfte. Er hatte mich und ein blondes Mädchen für eine Aufführung im Tropeninstitut in der heutigen Bernhard-Nocht-Straße ausgewählt. Es war Weihnachten, wir haben dort mit den Soldaten Lieder gesungen. Uns wurde dafür ein Mittagessen versprochen. Darauf haben wir uns unheimlich gefreut. Nach fast anderthalb Stunden haben uns die Professoren und Direktoren plötzlich rausgeschmissen. “Gerda, jetzt haben wir ja nur ein paar Kekse in der Hand, aber kein Mittagessen bekommen”, sagte ich. Erst später haben wir erfahren, dass mein Lehrer Schwierigkeiten bekommen hatte, weil er uns beide zusammen hatte auftreten lassen.

Gab es Anzeigen gegen Sie oder Ihre Großmutter?

NEJAR: Ja, wir haben aber erst nach dem Krieg davon erfahren. Meine Großmutter war eine große Hitler-Gegnerin. Es gab Nachbarn, die meine Großmutter nicht nur deshalb ablehnten, sondern auch, weil sie einen schwarzen Mann gehabt hatte. Auch ich hatte immer wieder Schwierigkeiten. Ich brauchte nur eine andere Umgebung, dann ging es schon wieder los mit den Sprüchen über mein Aussehen.

Warum haben die Anzeigen für Sie keine unmittelbaren Folgen gehabt?

NEJAR: Ich hatte das Glück, dass die Polizisten auf der Davidwache mich von klein auf kannten. Sie haben entweder nur so getan, als würden sie die Anzeige aufnehmen oder die Akten einfach immer wieder nach unten gelegt.

Wie haben Sie das erfahren?

NEJAR: Das hat mir meine Großmutter nach dem Krieg erzählt. Und sie wiederum hat es von einem Beamten erfahren. Manche der Polizisten haben meine Großmutter auch immer wieder gewarnt.

Sie haben die Schule 1944 abgeschlossen und dann in einer Keksfabrik gearbeitet. Wie ist es dazu gekommen?

NEJAR: Eigentlich hatte meine Großmutter mich zur Handelsschule angemeldet, aber das wurde abgelehnt. Es hieß, ich hätte in die Munitionsfabrik zu gehen. Dort sagte der Chef aber, dass er mit einem Kind nichts anfangen könne. Ich war 14 Jahre alt, sah aber aus wie eine 12-Jährige. Beim Arbeitsamt haben sie mich dann zur Arbeit in einer Keksfabrik verpflichtet. Anderthalb Jahre habe ich das gemacht.

Haben Sie für diese Zwangsarbeit später eine Entschädigung bekommen?

NEJAR: Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich nicht informiert. Eigentlich hätte meine Oma aber eine Entschädigung verdient. Sie hatte immer die größte Arbeit und die meisten Schwierigkeiten.

Wie haben Sie das Kriegsende vor fast 70 Jahren erlebt?

NEJAR: Ich hatte eine gut gelaunte Großmutter! Hamburg wurde an die Briten übergeben und damit war für uns der Krieg zu Ende. Es war eine unheimliche Stille. Man hörte aber auch Schluchzen. Der Nachbar von gegenüber, der uns bei den fürchterlichen Bombenangriffen in seinen Keller geholt hatte, stand am Fenster und weinte. Ich winkte ihm zu. Dass er auch ein Nazi war, hatte ich gar nicht gewusst. Am nächsten Tag war er tot, er hatte sich das Leben genommen.

Die Nationalsozialisten haben vielen Deutschen, die nicht in die gewünschte “Volksgemeinschaft” passten, die Staatsbürgerschaft entzogen. Wie war es bei ihnen?

NEJAR: Ich hatte immer die deutsche Staatsbürgerschaft. Trotzdem sagte meine Großmutter nach dem Krieg, dass ich nun staatenlos sei. Sie hatte immer so wunderbare Ideen. Mit den Papieren ihres verstorbenen Mannes aus Martinique gingen wir zum französischen Konsulat. Mein Mund stand offen – was sollte das denn? Ehe ich mich versah, war ich Französin.

Was hat sich dadurch für Sie verändert?

NEJAR: Nicht viel, da ich für Deutschland eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte. Beruflich spielte das gar keine Rolle. Ich durfte nur nicht in Deutschland wählen. Alle paar Jahre habe ich im französischen Konsulat irgendwo auf dem Stimmzettel meine Kreuze gemacht – ich verstand ja kein Französisch.

Haben Sie sich wieder einbürgern lassen?

NEJAR: Ja, das hat aber gedauert. Als ich mich ein paar Jahrzehnte später beworben habe, hieß es, ich müsste ein ganzes Monatsgehalt dafür hinlegen. Da bin ich doch lieber noch Französin geblieben. Erst als ich 1990 Rentnerin wurde, kostete es weniger. Für 100 D-Mark hab ich es dann gemacht.

Was bedeutet das für Sie?

NEJAR: Ich bin jetzt wieder Deutsche, eine Afro-Deutsche. Wobei ich mit Afrika im Grunde gar nichts im Sinn habe. Ich bin total deutsch, ich war weder in Afrika noch in der Karibik, wo mein Großvater geboren ist. Aber den meisten Menschen kann ich das nicht klar machen. Alle sehen in mir immer das Exotische und nicht das Deutsche. Ja, das ist das Leben.

Machen Sie immer noch negative Erfahrungen wegen Ihres Aussehens?

NEJAR: Ja, das kommt vor. Neulich zeigten zwei ältere Damen auf mich und sagten “Guck mal, da geht unsere Rente”. Sie waren offensichtlich der Überzeugung, dass mir kein Geld zustehen würde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mit dem Rassismus irgendwann einmal zu Ende geht. Es gibt immer etwas, wo Leute sagen, die Ausländer sind schuld. Ich habe aber in meinem Leben immer versucht, das nicht an mich herankommen zu lassen. Ich fühle mich in Deutschland wohl. Ich habe mein Auskommen, mein Zuhause, meine Leute.

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Marie Nejar auf St. Pauli

Eine afro-deutsche Kindheit im Nationalsozialismus - Marie Nejar im Interview
Karte: hamburg multidimensional
Autor_in Anke Schwarzer
Zuletzt bearbeitet: 07.12.2015
Weitere Informationen http://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-03/marie-nejar-afro-deutsche-kindheit-nationalsozialismus
Quelle ZEIT ONLINE
Global Link (Geografischer Bezug): Ghana (Global Links Karte zeigen)
Adresse: Schule Seilerstraße, Seilerstraße 42, St. Pauli, 20359 Hamburg
Koordinaten (Lat/Lon) 53.55070/9.963010

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