Kirche St.Michaelis (Neustadt)
1, 2, 3, 4, alle Roma bleiben hier
Die Gruppe „Romano Jekipe Ano Hamburg – Vereinigte Roma Hamburg“ protestieren gegen drohende Abschiebung
Erstellt am 24.11.2015, zuletzt geändert am 27.11.2015 | hamburg multidimensional
„Wir geben nicht auf. Auch wenn wir weg sollen, so bleiben wir trotzdem hier“, betonte Isen Asanovski am 18. September 2015 den Durchhaltewillen der Romafamilien, welche die Hauptkirche St. Michaelis besetzt hatten. Auf einer improvisierten Pressekonferenz musste er zuerst eine Zeitungsente dementieren, wonach die Romafamilien bereits wenige Stunden nach der Besetzung der evangelischen Hauptkirche aufgegeben hätten. Es war eine sehr asymmetrische Pressekonferenz: Während Romaaktivist_innen ihre gesamte Biografie in die Waagschale warfen, an die rassistische Verfolgung und versuchte Vernichtung der gesamten Minderheit während des Nationalsozialismus erinnerten, ließen sich die Journalist_innen, von denen keiner nur mit einer Duldung in Deutschland leben muss, kurz erklären, warum die Roma den Michel besetzt haben. Währenddessen schritt dahinter ein frohen Mutes in die Zukunft schauendes Brautpaar auf das Kirchenportal zu. Der Michel auf St. Pauli mit seinem schönen Kupferdach ist nicht nur eine Touristenattraktion, sondern begehrt für kirchliche Trauungen und Taufen, gerade bei bessergestellten Hanseat_innen.
An einem Donnerstagnachmittag entrollte die unauffällig in die Kirche gelangte Gruppe „Romano Jekipe Ano Hamburg – Vereinigte Roma Hamburg“ Transparente im Kirchenschiff und erklärte den Michel für besetzt. Sie forderten einen sofortigen Abschiebestopp in den Balkan sowie ein Bleiberecht für ihre Familien. Vom Turm wehte für mehrere Stunden weithin sichtbar ein Transparent: „Alle Bleiben!“, Unterstützergruppen organisierten Solidarität.
Esther Bejarano, Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Komitees, unterstützt die Forderungen der Besetzenden: „Selbstverständlich bin ich dafür, dass Deutschland so viel wie möglich Flüchtlinge aufnimmt.“ Ihre Schwester ist erschossen worden, weil die Schweiz sie nicht als Flüchtling aufgenommen, sondern nach Nazideutschland zurückgeschickt hat. „Aus diesem und vielen anderen Gründen bin ich dafür, die Roma aufzunehmen“, erklärte sie gegenüber dem Autor.
Demonstrationen, Besetzung und Solidaritätsbekundungen
Bereits im Juli hat die Gruppe mit einem einwöchigen Protest vor der Hamburger Ausländerbehörde vergeblich versucht, größere Aufmerksamkeit für ihre Forderungen zu erreichen. Aber auch eine Demonstration mit 600 Leuten, darunter viele Roma aus Asylunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen, für einen Abschiebestopp, wurde von der deutschen Bevölkerung kaum beachtet.
Dabei war der Protest von „Romano Jekipe Ano Hamburg“ von vorneherein offen angelegt: Mit mehrsprachigen Aufrufen auf Serbokroatisch, Deutsch und Romanes wurden auch andere Flüchtlinge angesprochen, ein Vertreter des als Lampedusa-Gruppe bekannt gewordenen, seit drei Jahren um ein kollektives Bleiberecht kämpfenden Zusammenschlusses über Italien eingereister afrikanischer Flüchtlinge hielt eine Rede.
Ebenso Peggy Parnass, deren Eltern von Deutschen als Juden im Konzentrationslager Treblinka ermordet wurden und die den Romaprotesten ihre Solidarität aussprach: „Wir werden zur Zeit Gott sei Dank nicht mehr abgeschlachtet“, so die Autorin: „Aber diskriminiert, beiseitegeschoben, weg gedrängt. Immer noch, immer noch. Das hat Tradition. So darf es aber nicht bleiben!“ Danach ging es begleitet von Sprechchören „1, 2, 3, 4, alle Roma bleiben hier“ und „We are here and we will fight, freedom of movement is everybodys right“ Richtung Hamburg-Altona.
Gefährlicher Mix aus Rassismus in der Bevölkerungsmehrheit und staatlichen Institutionen
Zum Abschluss der Demonstration traten die Rapper Prince-H, K-Flow and Gipsys Evidence auf. Zwei der drei jungen Roma aus Essen wurden bereits einmal nachts zuhause abgeholt und in den Kosovo abgeschoben. Viele Roma aus Ex-Jugoslawien, die abgeschoben wurden, versuchen zurückzukehren nach Deutschland. Denn die sogenannten „sicheren Herkunftsländer“ sind nicht sicher für Roma: „Es herrscht ein gefährlicher Mix aus Rassismus aus den Bevölkerungsmehrheiten und den staatlichen Institutionen“, so „Romano Jekipe Ano Hamburg“ in einer Erklärung: „Der Zugang zu Arbeitsplätzen, Bildung und zur Gesundheitsversorgung ist weitestgehend versperrt.“ Immer wieder geht es auch bei der Besetzung des Michel darum, Deutschen zu erklären, dass Roma auf dem Westbalkan eine ausgegrenzte, diskriminierte Minderheit sind. „Dies wird von den politisch Verantwortlichen in der Ausländerbehörde und der Justiz ignoriert“, resümiert Ivo Schmidt* im Gespräch mit dem Autor.
„Letztendlich ist die Lage und die Diskriminierung der Roma bekannt und auch dokumentiert, unter anderem durch UN- und EU- Berichte aber auch durch die Arbeit von NGOs wie etwa dem Roma Center Göttingen“, so die Fotojournalistin Allegra Schneider gegenüber dem Autor. Mit einer Recherchegruppe, die Familien in Roma-Siedlungen besucht hat, die aus Deutschland abgeschoben worden sind, war sie mehrmals in verschiedenen der neu gebildeten Nationalstaaten in Ex-Jugoslawien. Letztes Jahr erschienen die beiden Bände „Abgeschobene Roma in Serbien“ und „Abgeschobene Roma im Kosovo“, im Oktober erscheint jetzt „Abgeschobene Roma in Mazedonien“. Die gründlich recherchierten, mit beeindruckenden Fotos reichhaltig bebilderten Berichte lassen sich über doku@koop-bremen.de bestellen.
„Es ist wohl nötig, die auf Rassismus zurückzuführende schlimme Situation der Roma immer wieder ins Bewusstsein zu rücken und den Deutschen ihre Ignoranz so schwer wie möglich zu machen“, so Jean-Philipp Baeck, Redakteur der taz bremen, ebenfalls Mitglied der Recherchegruppe: „Das Bild dass sich uns ergab, würde ich als ein Mosaik an Diskriminierungen bezeichnen: Roma bekommen keine Arbeit, sie werden in Arztpraxen diskriminiert und viele haben ohne Registrierung nicht einmal Zugang zu den paar Euro an Sozialhilfe.“ Allegra Schneider ergänzt: „Auch im Kosovo berichten die Roma von Angriffen, dass sie mit Steinen beworfen und verprügelt werden. Die Länder sind für sie nicht sicher. Für Roma ist kein Land sicher“.
Die Besetzergruppe „Romano Jekipe Ano Hamburg“ hatte in den Michel Dokumente der Diskriminierung von Roma in den vermeintlichen sicheren Herkunftsstaaten mitgebracht. Und jede, jeder kann eine persönliche Geschichte vorweisen, die als Asylgrund gelten müsste. Isen Asanovski, 41, hat mit seiner Familie in Tetevo in Mazedonien gelebt und berichtet mir von einem für Roma in Ex-Jugoslawien leider ganz gewöhnlichem Ereignis: Einige Jahre vor ihrer Flucht verkaufte er seinen Schrottplatz. Der neue Besitzer kam mit seinem Laster in hohem Tempo auf den Platz und überfuhr den damals sechsjährigen Sohn von Isen Asanovski: „Es gab nie eine polizeiliche Untersuchung dieses Todesfalles, weil mein Sohn ein Rom war“.
Zdravko Schmidt* zeigt mir zwei Schreiben: Ein Attest, das eine psychische Erkrankung bescheinigt, und eine „Meldeauflage für die Bundespolizei am Flughafen Hamburg“ – eine Abschiebungsanordnung der Stadt Hamburg. Fotos der ganzen Familie sind direkt mit abgedruckt. Das Schreiben soll zur Identifizierung am Flughafen vorgezeigt werden. „Die nehmen noch nicht einmal Rücksicht auf schwere Krankheiten!“ empört er sich zu Recht. Der bürokratische Vorgang ist bis ins Detail geregelt: „Bitte beachten Sie, dass Sie pro Person maximal 20 kg Gepäck mitbringen dürfen“ steht im Brief. Abschiebungsroutine: „Der Aufenthalt gilt bis zum o.g. genannten Termin als geduldet.“ Danach ist die Duldung aufgehoben, ein weiterer Aufenthalt in Deutschland nur klandestin möglich. Der aufgedruckte Termin ist verstrichen: „Ja, wir haben uns entschlossen uns an der Besetzung zu beteiligen, um ein Bleiberecht für uns zu erreichen. In die Unterkunft zurück können wir nicht“. So ist es nicht verwunderlich, dass viele der Roma Koffer und große Taschen dabei haben – ihren gesamten Besitz.
„Über 20 Familien haben von der Ausländerbehörde einen Bescheid für ihre Abschiebung nach Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und in den Kosovo innerhalb der nächsten Woche bekommen“, so Romana Schneider* von „Romano Jekipe Ano Hamburg“ in einer Erklärung: „Als letztes Mittel, um nicht in eine Situation von Verfolgung, Diskriminierung und Elend abgeschoben zu werden, haben wir seit heute, dem 17.09.2015 um 17 Uhr, die Sankt Michaelis-Kirche besetzt.“ Die Gruppe erklärte: „Wir werden den Michel so lange besetzen, bis wir unser Ziel erreicht haben!“
„Romano Jekipe Ano Hamburg“ ist als Zusammenschluss seit Mai aktiv. Die Selbstorganisation von Roma ist in Hamburger Flüchtlingsunterkünften entstanden, die Besetzung des Michel eine unter den Bedingungen eines unsicheren Aufenthaltsstatus gemeinsam beschlossene Aktion. Einige der an „Romano Jekipe Ano Hamburg“ beteiligten Familien wurden bereits abgeschoben.
In der Nacht vor der Besetzung des Michel wurden 14 von ihnen, allesamt Roma, Erwachsene und Kinder, in ihren Flüchtlingsunterkünften in Hamburg-Billbrook und Bergedorf von Polizisten geweckt und sofort abgeschoben. Ohne Ankündigung, ohne Möglichkeit noch einmal zu telefonieren. In eine ungewisse Zukunft. Sie sind einfach weg. „Wir wissen von diesen 14, aber es kann gut sein, dass noch mehr Roma in dieser Nacht abgeschoben wurden – im Rahmen einer Sammelabschiebung per Flugzeug“, so Romano Schmidt*.
43 Roma haben daraufhin den Michel besetzt, Familien, darunter 28 zum Teil kleine Kinder. „Die Frauen schlafen im Gemeindehaus, die Männer in der Kirche“, erklärte Isen Asanovski am Morgen nach der Besetzung im Gespräch mit dem Autor. In einem Seitenschiff der großen Kirche, wo sie sich auch tagsüber aufhalten, ohne die Gottesdienste zu stören. Der Kirchengemeinderat erklärte aber in einer Mitteilung, die Situation sei „für St. Michaelis untragbar“, die Kirche in einem „Dilemma“: „Einerseits wollen wir die Roma-Familien nicht aus der Kirche holen. Sie sind von Abschiebung bedroht und darum in einer Notlage, weil ihnen in ihren Herkunftsländern Verfolgung und Diskriminierung drohten. Andererseits können wir an der Situation dieser Menschen nichts ändern.“
Appell im Sonntagsgottesdienst
Hauptpastor Alexander Röder erklärte am vierten Tag der Aktion, dem 20. September 2015, gegenüber dem NDR: Es werde zwar kein Kirchenasyl geben, man werde die Menschen aber auch nicht einfach vor die Tür setzen. Er ließ offen, wie lange sie bleiben können. „Wir haben uns die jetzige Situation weder gewünscht noch ausgesucht“, so der Kirchengemeinderat, nicht ohne die besetzenden Roma zu entmündigen: „Wir sehen keine Lösung, weil die rechtliche Lage hoffnungsarm ist und bei den Roma Erwartungen geweckt worden sind, die zu erfüllen nicht in unseren Möglichkeiten als Kirchengemeinde liegen.“ Die Spitze gegen die Unterstützergruppen der Roma vom bundesweiten Netzwerk „alle bleiben!“, dem Flüchtlingsrat Hamburg und dem Bündnis „Recht auf Stadt – never mind the papers!“ verkennt, dass keine linke Gruppierungen humanistische „Erwartungen geweckt“ haben, sondern die Gruppe der Roma keine Alternative dazu gesehen hat, als letzte Chance auf ein Bleiberecht eine spektakuläre Besetzungsaktion im Michel durchzuführen.
„Ich bitte euch alle im Namen Gottes, uns zu helfen", appellierte Isen Asanovski am 20. September 2015 im Sonntagsgottesdienst. An einem kleinen Pult stehend, drei Meter entfernt vor dem mit üppigem Gold verzierten Altarbereich berichtete er von der Diskriminierung der Roma in Ex-Jugoslawien, gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die protestierenden Romafamilien doch nicht abgeschoben werden: „Wir verlassen uns jetzt auf Gott.“ Landesbischof Gerhard Ulrich ging in seiner Predigt unverbindlich auf den Appell ein: „Ich fühle mit Ihnen.“ Er mahnte zwar, „den Männern, Frauen und den vielen Kindern hier zu helfen", blieb aber wolkig. Pröpstin Ulrike Murmann erklärte, mit der Innenbehörde über mögliche Lösungen des „Dilemmas“ sprechen zu wollen.
Auf Verständnis kann sie dabei nicht hoffen: In der Abschiebeabteilung der Ausländerbehörde arbeiten seit neuestem mit 20 Mitarbeiter_innen dreimal mehr als Anfang 2015 – mit einer klaren Zielvorgabe: „Wir fahren eine sehr konsequente Linie, gerade was die Balkanländer angeht. Es ist schon abstrus, dass wir 50 Prozent aller Flüchtlinge aus dem Balkan haben“, so Innensenator Michael Neumann gegenüber dem NDR. Die würden die Ausländerbehörde „wahnsinnig beschäftigen und belasten“.
Willkommenskultur made by SPD
Der von ihren Funktionär_innen als „Belastung“ eingebildete Aufenthalt geflüchteter Roma stört in der Wahrnehmung der SPD die Willkommenskultur: Wenn Roma sich nicht abschieben lassen, sinke womöglich die Bereitschaft der Deutschen, Kriegsflüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. „Wir werden verstärkt daran arbeiten“, so der damalige Sozialsenator Detlef Scheele, „dass die ausreisepflichtigen Asylbewerber auch tatsächlich ausreisen.“
Am 19. September 2015 beschloss der Hamburger Landesparteitag der SPD, der beide Senatoren und der Bürgermeister der rotgrünen Landesregierung angehören, zeitgleich zur Besetzung des Michel, drei weitere Westbalkanstaaten – Kosovo, Montenegro und Albanien – zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, um Asylanträge von Menschen auch aus diesen Ländern schnell, vor allem: ohne Einzelfallprüfung, ablehnen zu können. Es gab nur eine vereinzelte Gegenrede, der Leitantrag zur Flüchtlingspolitik wurde mit nur wenigen Gegenstimmen angenommen.
Eine entsprechende gesetzliche weitere Einschränkung des Asylrechts wurde von der großen Koalition mit den Stimmen von SPD, CSU und CDU am 15. Oktober 2015 im Bundestag beschlossen. Im Bundesrat werden genügend der grün-roten und rot-grünen Landesregierungen zustimmen, damit das Gesetz schnellstmöglichst in Kraft treten kann, wie Robert Habeck am 16. Oktober 2015 gegenüber dem NDR erklärte. Im November 2014 waren vom Deutschen Bundestag aus dem gleichen Grund bereits Serbien, Mazedonien und Bosnien als „sichere Herkunftsländer“ deklariert worden. Asylanträge können seitdem noch leichter ohne Einzelfallprüfung abgelehnt, Duldungen beendet, Abschiebungen exekutiert werden. Die Älteren aus der mit letzter Hoffnung mit der Besetzung des Michel gegen ihre Abschiebung kämpfende Romagruppe kommen aus diesen drei vermeintlich sicheren Herkunftsländern. Die kleinen Kinder sind zum Teil in Deutschland geboren.
Auf dem Landesparteitag der Hamburger erklärte SPD Bürgermeister Olaf Scholz in seiner Grundsatzrede: „Wer das Asylrecht hochhält, muss diese Dinge unterscheiden. Im westlichen Balkan geht es nicht um Verfolgung, da geht es um Arbeitsmigration“. Scholz, der auch Landesvorsitzender der Hamburger SPD ist: „Für den westlichen Balkan brauchen wir einen Korridor für Arbeitsmigration, aber es ist nicht Asyl, das ist nicht das, was man an dieser Stelle benötigt.“ Scholz erwähnte die besondere Verfolgung der Roma mit keinem Wort. Der SPD-Landeschef gab bereits im Juli die Linie vor: „Es geht um schnellere, unbürokratische Entscheidungen“, so Scholz gegenüber dem Stern, „dazu gehören auch spezialisierte Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive.“ Um schneller und mehr abzuschieben. Die CSU ist ihm dabei allerdings zuvorgekommen. Seit 1. September 2015 gibt es im bayrischen Maching bei Ingolstadt das erste Abschiebezentrum. In Kürze soll in Bamberg ein weiteres eröffnet werden.
Drei Stunden Kochplatte, zwei Duschen für 43 Menschen
Die Gruppe “Romano Jekipe Ano Hamburg – Vereinigte Roma Hamburg” harrte dreieinhalb Wochen auf dem Gelände des Michels aus. Sie hatten von der Kirchengemeinde St. Michaelis einen Schutzraum vor der drohenden Abschiebung erhalten. Zwei Zimmer öffnete die Kirchenverwaltung im Gemeindehaus, wo jeweils eine Familie auf einer großen, von den Unterstützergruppen organisierten Matraze schlief. Zu viert, zu fünft, oder auch zu acht. Eine Waschmaschine gab es für sie nicht. Drei Stunden täglich durfte die Gruppe eine transportable Kochplatte benutzen, morgens durften sich die 43 Menschen zwei Duschen teilen. Ohne die Solidarität aus den unterstützenden antirassistischen Gruppen, deren Anwesenheit von der Kirchengemeinde argwöhnisch beäugt geduldet wurde, hätte die Romagruppe nicht so lange durchhalten können. „Wir sind der Kirche dankbar, dass sie uns einen Schutzraum vor der drohenden Abschiebung in eine Situation von Verfolgung, Diskriminierung und Elend bietet und sich bei der Politik für uns einsetzt“, so Isen Asanovski von der Romagruppe nach den ersten fünf Tagen Aufenthalt auf dem Michelgelände, noch voller Hoffnung, von der evangelischen Landeskirche mehr Unterstützung zu erreichen.
Der Kirchenkreis Hamburg-Ost erklärte, wenn die Familien ihre Einzelfälle gegenüber der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt offenlegen, könnten sie dort beraten werden. Falls es Gründe gäbe, die gegen eine Abschiebung sprechen würden, werde der Kirchenkreis beim Bundesamt für Flüchtlinge um Aufschub und neue Prüfung bitten, erklärte Pröpstin Ulrike Murmann. Nicht ohne einschränkend hinzuzufügen: Der Michel gebe den Roma humanitäre Hilfe, es handele sich aber keineswegs um Kirchenasyl.
Von Bittsteller_innen und Besetzer_innen
Verärgert reagierten Hamburger Kirchenfunktionär_innen auf die Anmerkung des Vorsitzenden der Roma- und Cinti-Union Hamburg, Rudko Kawczynski, „hunderte weitere Familien wollen in den nächsten Tagen in ganz Deutschland ebenfalls Kirchenasyl suchen, um den Verhaftungen und Abschiebungen zu entgehen“. Obwohl es sich nur um eine Mutmassung handelte, die angesichts der unsicheren Aufenthaltssituation von Roma aus Ex-Jugoslawien sehr verständlich ist, bezeichnete Nordkirchen-Sprecher Pastor Stefan Döbler mögliche weitere Kirchenbesetzungen als „inakzeptabel“. Kirchenasyl werde Bittstellenden gewährt, keinen Besetzenden: „Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft können nicht erzwungen werden“, so Döbler: „Grundsätzlich entscheidet jede Kirchengemeinde selbst, ob sie Kirchenasyl gewährt“. Sobald der rechtliche Weg zu Ende sei, werde man die Menschen bitten, den Michel zu verlassen, erklärte ein Sprecher des Kirchenkreis Hamburg-Ost noch im September 2015.
Zu sehen war vom Protest für Außenstehende schon lange nichts mehr: Keine Transparente, keine Stellwände, keine Flugblätter durften die Roma aufhängen oder verteilen. Der Klerus ist nicht bereit, sich die Außendarstellung des Michel als Kirche aus der Hand nehmen zu lassen: „Üblicherweise fragen Gäste an, ob sie kommen dürfen und entscheiden wir auch, wen wir zu Gast haben und wen nicht. Das ist also eine Sache auf Gegenseitigkeit“, so Pröpstin Isa Lübbers, beim Kirchenkreis Hamburg-Ost für die Flüchtlingsbetreuung zuständig – und wenig begeistert von der Eigenständigkeit der Romagruppe: „Hier haben die Familien für sich einen Ort gesucht, der, glaube ich, auch sehr öffentlichkeitswirksam sein kann“.
Dabei teilt Lübbers die Forderung nach einer gründlichen Einzelfallprüfung der Asylgründe – gerade bei Roma, gerade auch aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten Ex-Jugoslawiens: „Wenn man sich anguckt, wie sie dort systematisch in ganz vielen Fällen auch diskriminiert und von vielen Dingen ausgeschlossen werden, macht es Sinn, hier genauer zu gucken und nicht pauschal zu sagen: die behandeln wir wie alle anderen, die aus diesen Staaten kommen.“ Trotzdem – zu mehr als einer Einzelfallberatung und einer bis zu deren Abschluss gewährten Duldung auf Kirchengelände kann sich auch Isa Lübbers nicht öffentlich durchringen.
Ausscheren aus dieser repressiven Toleranz tut die „Diakonische Basisgemeinschaft Brot und Rosen“. Eine Wohngemeinschaft, in der Menschen mit und ohne deutschem Pass zusammenleben. Wenn es nach Dietrich Gerstner von „Brot und Rosen“ ginge, würde die Kirche die Bleiberechtsforderung der Roma unterstützen: „Ich würde mir wünschen, dass sie das, ich sag mal so, auch mehr zu dem ihrigen machen, zu ihrer Sache“.
Keine Verhandlung mit der Stadt Hamburg
Er wurde nicht erhört. Genauso wenig wie die Roma: Nach dreieinhalb zermürbenden Wochen im beengten Provisorium willigten die Familien ein, sich am 12. Oktober 2015 auf kirchliche Einrichtungen im Hamburger Raum umverteilen zu lassen. Um nicht mehr so beengt zu leben, gaben sie die Präsenz am Michel auf. Sie willigten auch deshalb ein, weil sie von der Kirchenverwaltung bereits vorher sanft in die Unsichtbarkeit gedrängt wurden. Ihre Forderungen wurden bis Mitte November 2015 nicht erfüllt, von der Stadt Hamburg werden sie weiterhin nicht beachtet, niemand erklärte sich zu Verhandlungen über ihre Forderung nach einem sicheren, dauerhaften Aufenthaltsstatus bereit. Weiterhin ist die Romagruppe auf Unterstützung angewiesen – erreichbar sind sie per E-Mail und über Facebook.
Isen Asanovski von „Romano Jekipe Ano Hamburg“: „Wir fordern die politischen Verantwortlichen in der Ausländerbehörde, der Hamburger Bürgerschaft und der Justiz auf, unsere Fluchtgründe nicht länger zu ignorieren und die bevorstehenden Sammelabschiebungen zu stoppen.“
Aktuelle Infos und Kontakt:
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1, 2, 3, 4, alle Roma bleiben hier
Die Gruppe „Romano Jekipe Ano Hamburg – Vereinigte Roma Hamburg“ protestieren gegen drohende Abschiebung
Karte: | hamburg multidimensional |
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Autor_in | Gaston Kirsche |
Zuletzt bearbeitet: | 27.11.2015 |
Global Link (Geografischer Bezug): | Mazedonien; Serbien; Kosovo; Montenegro; Bosnien-Herzegowina (Global Links Karte zeigen) |
Adresse: | Kirche St.Michaelis , Englische Planke 1, Neustadt, 20459 Hamburg |
Koordinaten (Lat/Lon) | 53.54836/9.978783 |
Kommentare
Die Kirche macht den Scholz
Kommentar in der taz über Zögerlichkeit der Kirche gegenüber Roma
Die Kirche macht den Scholz
Statt sich gegen die Diskriminierung der Roma einzusetzen, setzt die Kirche auf eine Abschiebung auf Raten. Kirchenasyl steht nicht zur Debatte. Mehr:
http://www.taz.de/Kommentar-ueber-Zoegerlichkeit-der-Kirche-gegenueber-Roma/!5237138/
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